
„Bin ich zu früh hier ?“
Im Hospiz werden viele verschiedene Menschen mit verschiedensten Erkrankungen aufgenommen. Was sie alle gemeinsam haben, ist, dass ihre Erkrankung zum Tode führen wird. Früher oder später. Unausweichlich!
Sehr spät
Oft erleben wir, dass die Menschen erst ins Hospiz kommen, wenn zuhause eine Betreuung so gar nicht mehr möglich ist. Sie bereits bettlägerig sind und die Erkrankung schon sehr weit fortgeschritten ist. Die Angehörigen an ihre Grenzen kommen, Konflikte entstehen.
Dann können wir oft nur noch etwas zur Symptomlinderung tun, da sein, begleiten, auffangen, behüten.
Jetzt
Und dann gibt es Menschen, die sich entscheiden ins Hospiz zu gehen, sobald feststeht, dass die Ärzte nichts mehr tun können für sie und zuhause die Angst groß ist, dieser Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Sie entscheiden sich ganz bewußt, JETZT zu gehen, solange es ihnen noch gut geht. Mit dem Wissen, wenn es schlechter wird, ist jemand da und begleitet sie dann auch auf diesem letzten Weg. Sie möchten nicht warten, bis gar nichts mehr geht. JETZT haben sie noch die Möglichkeit, ihr Leben selbst zu gestalten, sich Wünsche zu erfüllen.
Vorausgegangen sind meist Chemotherapien, Bestrahlungen, Immuntherapien, Odyseen von Arzt zu Arzt, von Krankenhaus zu Krankenhaus. Das hat Spuren hinterlassen und sie leiden an Appetitlosigkeit, Nebenwirkungen durch Medikamente, Müdigkeit, Schmerzen und noch vieles mehr.
Sprich, die Lebensqualität hat gelitten, oft auch der Lebensmut nachgelassen. Ruhe scheint sehr verlockend zu sein, keine Verantwortung mehr tragen müssen, keine weiteren Entscheidungen treffen müssen. Einfach SEIN.
Kleine Wunder
Und plötzlich geschehen kleine Wunder 🪄
So mancher erholt sich langsam von den Strapazen der vielen Therapien. Medikamente werden reduziert und es ist kaum zu glauben, aber die Menschen fühlen sich besser. Der Appetit kommt zurück, Lebensfreude klopft wieder leise an, überhaupt Freude an den kleinen Dingen des Lebens macht das Leben plötzlich wieder lebenswert.
Besuch wird empfangen mit großer Vorfreude, vorsichtig werden kleine Events geplant, Wünsche entstehen.
Es macht so viel Spaß, dies zu sehen. Mein Herz geht auf, wenn die Menschen wieder strahlen können, sich wieder freuen. Die Lebensfreude geradezu greifbar ist.
Doch kommen diese Menschen zum Nachdenken, stellt sich ihnen oft die Frage : „Bin ich jetzt zu früh hier?“ Auch Angehörige überkommt dieser Gedanke und treibt sie um. Wäre das zuhause nicht auch möglich gewesen? 🤔
Bestenfalls kommen wir gemeinsam darüber ins Gespräch und ich werde nie müde, sie in ihrer Entscheidung zu bestärken.
Ich bin fest davon überzeugt, dass eine neue Leichtigkeit entsteht, wenn so große Felsbrocken wie Verantwortung, Pflichten, Therapien, Rücksichtnahme auf andere ein Stück weit genommen werden. Alles kann, aber wirklich NICHTS muss.
Ist der Mensch müde, kann er schlafen, egal wann. Hat er keinen Appetit, braucht er nichts zu essen. Ist kein Besuch gewünscht, wird dieser wieder ausgeladen. Keine Wohnung muss geputzt sein, kein Essen will gekocht werden, alle wirklich wichtigen Entscheidungen wurden bereits getroffen.
Bleibt also Zeit für sehr viel Leben! 🤗
Leben
Gerade lebt ein junger Mann bei uns im Hospiz, der sich nach und nach erholt von den gefühlt unendlichen Krankenhausaufenthalten und den immer wieder neuen Hiobsbotschaften. Er entdeckt das Essen wieder für sich, er genießt die Zeit auf der kleinen Terrasse an seinem Zimmer, wann immer es möglich ist. Er kann seinem Laster nachgehen, und beginnt mit kleinen Auszeiten vom Hospiz, zusammen mit seiner Freundin. Erst ein Cafébesuch, dann mal ein Besuch bei den Eltern der Freundin. Kleine Shoppingtour am Wochenende, Freunde besuchen.
Der Blasenkatheter kann gezogen werden. Welch ein Fest! 🥳
Und nun plant er ein Konzert zu besuchen. Er sprüht vor Lebensfreude und genießt die verbleibende Zeit.
Immer in dem Bewusstsein, dass sich das schlagartig ändern kann, denn die Erkrankung ist noch da und breitet sich aus. Er kennt das aus der Vergangenheit und hat beschlossen, das Leben jetzt nochmal am Schopf zu packen und es in vollen Zügen zu genießen.
Daher war auch diese Entscheidung niemals zu früh. Denn ohne sie, wäre er jetzt nicht da, wo er ist.
Staunen
Auch Angehörige erleben diese Leichtigkeit und begleiten diese Entwicklung mit Staunen. Sie spüren nicht mehr diese große Schwere, die eine bösartige oder einfach lebenslimitierende Erkrankung mit sich bringen kann. Sie wissen den geliebten Menschen in guten Händen und die Zeit, die ihnen zusammen bleibt, ist frei von Verpflichtungen, Verantwortung und anderen Erschwernissen.
Und dann kommt sie eben. Die Frage: „War das jetzt zu früh?“
NEIN! In einem Hospiz herrscht oft Traurigkeit, Verzweiflung, Schwere. Aber mindestens genauso viel Freude, Lachen, Leben. Jeder Teil hat seine Zeit! Jeder Teil ist größer oder kleiner!
Es ist uns so wichtig, zu zeigen, dass wir kein Sterbehaus sind. Wir begleiten das Sterben, ja, aber eben auch das Leben. Und wir würden uns wünschen, wir könnten dies noch viel öfter viel früher tun! ☺️
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14 thoughts on “„Bin ich zu früh hier ?“”
Liebe Tamara
ein sehr schöner Beitrag, Du sprichst mir aus dem Herzen ❤️
Auch mir kommt tatsächlich ab und an mal dieser Gedanke, wenn ich sehe, dass sich einige unserer Patienten bei uns so gut erholen.
Aber es ist genau so wie du es schreibst,
es wird unweigerlich bei uns im Hospiz gestorben, es wird aber auch gelebt, und das zählt und ist wunderschön mit anzusehen 😍
Danke für den Beitrag und ganz liebe Grüße
Christiane
Danke für DEINEN schönen Beitrag. ♥️
ein super toller Bericht über Hospizarbeit , gut ge-und beschrieben.
erlebe es genau so im Ehrenamt schon seit ein paar Jahren im Hospiz
und bin dankbar und glücklich darüber. mein großer Respekt all denen die so gute Arbeit im Hospiz leisten
Danke, liebe Beate! Darüber freue ich mich sehr!
… Und wieder so wunderschön geschrieben… ❤️
Ganz lieben Dank! 🌺
Danke für den, für mich völlig neuen, Einblick in das Hospiz. Auch ich war der Meinung das man das Hospiz erst „kurz vor knapp“ aufsucht und wurde durch den Artikel eines besseren belehrt.
Danke für die Möglichkeit vor dem Ende nochmal leben zu können.
Wie schön, wenn der Beitrag unsere Arbeit so gut darstellen konnte und eine andere Sicht auf die Dinge ermöglicht. Das freut mich wirklich sehr.
Liebe Tamara
Ich danke dir für diesen wunderschönen Bericht..
Es war für uns die beste Entscheidung..Das der junge Mann zu euch gekommen ist..
Ich danke euch von Herzen für eure liebe,Fürsorge und euer grosses Herz
Der Tag zum Abschied nehmen wird kommen..Das wissen wir
Und ich weiss das er und ich bei euch Inden besten Händen sind..
Ihr seid alle klasse..
Danke für alles
Das berührt mich sehr. ♥️ Danke für die lieben Worte!
Liebe Tamara,
du beschreibst unsere Arbeit im Hospiz so zutreffend und mit wunderbaren Worten.
Auch für uns ist es schön, wenn schwerkranke Menschen früher zu uns kommen und wir sie somit auch besser kennenlernen können, ihre Vorlieben und auch ihre Schwächen und Stärken.
Wie du schon sagst, es ist nie zu früh !
Danke für deinen wieder mal sehr guten Blick auf die Hospizarbeit und sehr schön geschrieben.
Liebe Grüße Irene
Ich danke dir von Herzen ♥️
Liebe Tamara..
Leider ist der Tag am 18.01.2024 gekommen an dem Thomas für immer eingeschlafen ist.
Wir hatten noch genau 5 Monate und 1 Tag bei euch..
Es war die schönste Zeit die wir erleben durften..
Ich danke euch allen von Herzen dafür..
Es tut sehr weh und ich vermisse Thomas so sehr..
Danke das es so Engel wie euch gibt..Ihr habt meinen größten Respekt
Liebe Iris, Danke für deine lieben Worte! ♥️ Das haben wir so gerne getan, für Thomas, für dich, für alle tollen Menschen, die Thomas kannte. Er war eingebettet in eine grosse Familie, die mit ihm durch alle Höhen und Tiefen gegangen ist. Euch gebührt ebenfalls ganz viel Respekt, dass ihr euch drauf eingelassen habt. Fühl dich gedrückt!